Interview mit dem Wertesystem



Sonntagmorgen, nachdenklich.

Seit einigen Wochen arbeite ich intensiv alleine an meinen "Charakterschwächen", wie ich sie nenne. Nach einer langen Analyse bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich ein paar Features habe, die mir nicht unbedingt gefallen, und ich bin bereit, sie zu ändern. Ich durchlebe einen sehr schmerzhaften Transformationsprozess, in dem ich der Vergangenheit begegne, mit Schmerz, falschen Entscheidungen, Enttäuschungen und anderen emotionalen Zuständen in Kontakt komme.

Durch Zufall traf ich einen syrischen Asylanten, der seit 4 Jahren in Deutschland ist. Sein Alltag ist mit Arbeit, dem Erlernen der deutschen Sprache und der Pflege seiner 75-jährigen, kranken Mutter gefüllt. Aber in diesem immer gleichen Ablauf aus Tagen, Wochen und Monaten träumt er auch von einer Beziehung, einem guten Job und einer glücklichen Zukunft.

Du wirst wahrscheinlich denken, dass die Geschichte nichts besonderes ist, zumal wir in einer Stadt leben, in dem Deutsche heutzutage in vielen Bezirken eine Minderheit sind. Noch vor ein paar Monaten würde ich diese Begegnung wie Du bewerten, nichts besonderes, jeder hat einmal begonnen, aller Anfang ist schwer usw., aber heute schaue ich mir diesen Fall aus verschiedenen Blickwinkeln an.

Bevor ich meinen Laptop einschaltete, hatte ich ein langes Gespräch mit meinem Freund über meine Gefühle und Gedanken und kam zu dem Schluss, dass sie es wert waren, notiert zu werden. Natürlich wurde die von mir erwartete Frage gestellt: Muss ich immer auf Sonderfälle stoßen, wo man doch auch unproblematischer leben kann, nach dem Motto, sie lebten glücklich bis zum Ende.

Ich bin überzeugt, dass ich ohne meinen Veränderungsprozess und meine tiefen Gedanken diesen Mann abhaken würde, ohne ihm weitere Beachtung zu schenken. Aber ich erinnerte mich an meine Anfänge in diesem Land vor 16 Jahren; finanzielle Probleme, Überlebenskampf, täglich 12-14 Stunden Arbeitsfleiß wie eine Ameise, Einsamkeit und Verluste, das Gefühl, schon verloren zu haben, obwohl ich noch ganz am Anfang stand.

Ich habe mich oft gefragt, warum ich mir immer noch beweisen muss, dass ich gut bin, dass ich mehr weiß als manche Leute, bei denen ich gearbeitet habe und die mich mit Respektlosigkeit behandelt haben.

Ich erinnerte mich an das Gefühl der Rebellion, dass ich nur danach beurteilt wurde, was ich alles nicht kann und habe, und nicht danach, wer ich war. Und trotz des Laufs der Zeit hat sich nichts geändert – noch heute ist das Maß für den Wert eines Menschen sein finanzieller Erfolg und sein Auftreten. Als ich gestern meinen Gesprächspartner ansah, fragte ich mich im Geiste, ob er, wenn er besser gekleidet wäre, gut Deutsch sprechen würde und einen tollen Job hätte - wäre er für Frauen als Mann attraktiver? Die Antwort war ja.

Auch musste ich daran denken, wie oft ich hörte, als ich mein neues Leben im Ausland begann, dass meine Sprache, mein Akzent und ich „süß“ seien. Das hat mich immer genervt, und ich sagte, süß sind Bonbons und ich bin ein Mensch, der denkt, fühlt und nicht wie ein Gegenstand behandelt sein will. Für mich war es schockierend festzustellen, dass auch ich schon von der kapitalistischen Denkweise korrumpiert war und Menschen nach ihrer beruflichen Stellung und ihrem materiellen Status beurteilte.

Wer ist heute der Mann mit seinen Werten?

Du verlierst, wenn Du arm bist, und in den Augen der Gesellschaft bist Du ein Opfer. Du gewinnst, wenn du es „geschafft“ hast, selbst wenn Du nicht gut aussiehst, wenig IQ und einen miesen Charakter besitzt, aber eine dicke Brieftasche in Deinem Hugo Boss-Mantel trägst – dann bist Du Tip Top. Weil die Welt von Geld und Sex regiert wird. Das klingt hart, ist aber wahr. Noch immer hört man von Frauen, die sich „nach oben schlafen“, weil Beziehungen angeblich wichtiger als Talent sind. Diesem Blödsinn widerspreche ich als erstes.

Das zweite ist die Fassade, hinter der sich die Welt der erfolgreichen Frauen verbirgt, die reich sind, weil sie gut geheiratet oder geerbt haben. Und all das Lametta ihres Lebens für die Show endet in tiefer Depression und Frustration auf der Couch eines Therapeuten. Das dritte Modell sind Er und Sie - eine ausgeblasene Prinzessin mit einer Nuss anstelle eines Gehirns, aber mit den Lippen von Daisy Duck und einer zu erfüllenden Wunschliste. Und er erfüllt diese Wünsche, solange seine erfüllt werden. Die Welt der Illusionen ist besser als die reale und wenn Du anders denkst und redest, wirst Du von Deiner Umgebung gemieden. Und natürlich bewertet.

Da bist, was Du denkst..

Erst heute habe ich verstanden, dass ich mir ein Gefühl der Sicherheit geben würde, wenn ich frei von Vorurteilen wäre. Denn ein anderer Mensch soll weder Leere noch andere Mängel ausfüllen, sondern er bereichert durch seine einzigartige Persönlichkeit und neue Werte mein Leben. Nichts ist für immer gegeben, aber wir wollen tendenziell alles für die Ewigkeit.

Ich habe einmal geschrieben, dass nichts offensichtlich ist und wir dennoch leben, als ob alles selbstverständlich wäre - dass wir gesund aufstehen, wenn der Wecker klingelt, das Wasser fließt, wenn wir duschen gehen, dass sich etwas im Kühlschrank befindet. Und dann, dass wir sicher zur Arbeit kommen, dass keine „betriebsbedingte Kündigung" ins Haus flattert; ich weiß, dass Du weißt, was ich meine.

Wir fühlen uns sicher in einem Land, in dem wir noch sicher sind. Mein Gesprächspartner hat mir gestern ein Foto mit einem kitschigen Weihnachtsbaum im Hintergrund gezeigt. Kitsch für mich, denn heute kaufen wir schöne Nadelbäume für eine kurze Weihnachtszeit, die nach 4-5 Tagen auf der Straße landen. Als ich nach dieser Requisite fragte, sagte er glücklich, dass er sich auf die Feiertage vorbereite, und wir haben erst Mitte November. Ich habe seit über 25 Jahren keinen Weihnachtsbaum mehr in meiner Wohnung gehabt. Natürlich gibt es immer kleine Weihnachtsdekorationen, aber keinen Weihnachtsbaum, obwohl ich gläubige Katholikin bin.

Gestern habe ich gespürt, was Weihnachten für Menschen aus einer anderen Kultur ist, die nicht an Allah, sondern an Gott glauben, weil er nicht befiehlt, zu töten. Dieser Weihnachtsbaum ist für ihn ein Symbol für Frieden und das Gefühl, zu Hause zu sein, weil es in Damaskus nichts mehr gibt. Und ich habe gesehen, wie kurzsichtig wir oder auch ich sind, indem andere nach unseren Glücksmaßstäben beurteilt werden. Manchmal lohnt es sich, die Perspektive zu wechseln und ohne Beurteilung zu schauen.

Mein Freund hat mir die Frage gestellt, warum ich komplizierte Menschen anziehe. Wäre es nicht einfacher, einfacher zu leben? Wahrscheinlich ja. Ich bin aber eine Immigrantin aus Polen, also habe ich andere Sensoren. Ich weiß, wie schwierig es ist, eine Zukunft in einem Land mit einer anderen Sprache, Kultur und Gewohnheiten aufzubauen. Integration ist möglich, wenn zwei Seiten dazu bereit sind, sonst verliert jemand, jemand ist ein Opfer. Es ist schwierig, ohne Hilfe durch die Mäander der Bürokratie zu navigieren, es ist schwierig, den Slang zu verstehen, weil sie ihn nicht in der Schule unterrichten. Die Straße im Exil ist sehr holprig und nur diejenigen, die sie durchlaufen haben, können verstehen, worüber ich schreibe.

Antwort auf die Frage meines Freundes - Ich war oft eine "Brosche" für einen Mann, der sich mit mir schmücken wollte, oder ich war zu schlau oder zu arm. Ausgeglichenheit war nur mit Menschen möglich, denen selbst vom Schicksal ein nicht immer gerader Lebensweg beschieden wurde.

Nach dieser Begegnung wurde mir wieder einmal klar: Wenn Du an die Vergangenheit denkst, fühlst Du Schmerz, wenn Du an die Zukunft denkst, fühlst du Angst. Wenn Du in der Gegenwart stark bist, fühlst Du Glück. Heute habe ich zwei Geschenke geöffnet - das waren meine Augen.

Anna

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